Bild entnommen aus: So entsteht Armut – und setzt sich fort von Ursula Weidenfeld (erschienen in Deutschlandfunk – Kultur)
Literaturempfehlung
Der folgende Textausschnitt aus dem Buch „Die Anatomie der Ungleichheit“ von Per Molander macht deutlich, wie sehr unser Verhalten auch von wirtschaftlichen Rahmenbedingungen beeinflusst wird:
Wir spielten mit Murmeln auf dem Markt eines Tags
ein kleiner Volksschulbub und ich.
Ich hatte wohl fünfzig, er hatte fünf.
Wir spielten. Und er verlor alle an mich.
Er schluchzte auf und sah mir nach,
als ich überlegen pfeifend abzog.
Doch es tat mir leid, als ich nach Hause kam,
und ich dachte, da hast du was Hässliches gemacht.
Ich rannte zurück. Aber nirgends
konnte mir einer sagen, wo dieser Junge war.
Ich schämte mich. Ich glaube, ich schäme mich noch,
wenn ich welche sehe, die mit Murmeln spielen.
Und was würde ich geben, ich weiß nicht was,
um diesen Jungen froh zu sehen.
Aber heute ist er bestimmt ein großer, grober Kerl,
der schuftet und ackert – ich weiß nicht wo.
Und wüsste ich es, was würde es helfen.
Was man Häßliches getan hat, kann man niemals ändern.
Man kann keine Murmeln zurückgeben
und Jungen trösten, die zu Männern erstarrt sind.
Sten Selander, Murmelspiel
Fast jeder von uns hat in der Kindheit vermutlich eine Situation erlebt, wie sie in Selanders Gedicht beschrieben wird, entweder in der Rolle des Icherzählers dieses Gedichts oder in der des unterlegenen Volksschülers: Man fühlt sich wieder in jenen Augenblick versetzt und erinnert sich an das Siegesgefühl oder an die Bitterkeit des Verlustes. Selbst wenn der Sieger das unbefriedigende Gefühl hat, dass hier vor allem das Glück entschieden hatte, klingt das rasch ab. Für den Verlierer ist es eine Lektion in der Fähigkeit, die Enttäuschungen des heranrückenden Lebens des Erwachsenen bewältigen zu können.
Wir wollen von den Gefühlen der mit Murmeln spielenden Jungen absehen und die Frage stellen: Hat der richtige Spieler gewonnen? Selbstverständlich. Weil er gewonnen hat, muss es sich bei ihm um den Geschickteren der beiden handeln. Jedoch gibt es hier ein Problem, da die Voraussetzungen bei Spielbeginn nicht gleich waren: „Ich hatte wohl fünfzig, er hatte fünf“. Wie die meisten anderen Tätigkeiten, denen wir uns im Leben widmen, ist das Murmelspiel von einem Moment des Zufalls geprägt. Wenn zwei gleich gute Spieler aufeinandertreffen und der eine fünfzig Murmeln hat und der andere fünf, wer hat dann die größte Gewinnchance? Die Regel lautet, dass das Spiel beendet ist, wenn einer von beiden keine Murmeln mehr hat.
Die Frage ist einfach, die Analyse komplizierter – sie erfordert ein mathematisches Hilfsmittel, das man als Markow-Ketten bezeichnet – trotzdem kann man die Antwort auf einfache Weise formulieren. Hat der eine zehnmal so viele Murmeln wie der andere, ist die Wahrscheinlichkeit, dass er gewinnt, auch zehnmal so hoch, falls sie gleich geschickt sind. Das bedeutet, dass er durchschnittlich in mehr als neun von zehn Fällen gewinnen wird. Mit Geschicklichkeit hat das nichts zu tun: Der mit den meisten Murmeln bei Spielbeginn wird mit großer Wahrscheinlichkeit einfach deshalb gewinnen, weil er die meisten Murmeln hat.
(S 18ff)
Bild entnommen aus: ZDF Kultur – Das literarische Quartett
PER MOLANDER ist Mathematiker und ein anerkannter Experte für Verteilungsfragen. In leitender Position war er für die schwedische Regierung an Reformprojekten in den Bereichen Wohlfahrts- und Haushaltspolitik, sowie des Umweltschutzes beteiligt. Er war Berater unter anderem für die Weltbank, den IWF und die Europäische Kommission. Bis 2015 war er Generaldirektor der von ihm gegründeten Inspektion für Sozialversicherungen. Per Molander hat insgesamt über 100 wissenschaftliche Arbeiten, Ergebnisberichte und Bücher veröffentlicht.
(Text aus dem Einband des zitierten Buches, erschienen in Frankfurt/Main: Westend, 2017, ISBN 978-3-86489-184-7)