Damals wie heute: Auf dem Weg in die Moderne und wieder zurück

2018-08-07_OE1-Radiokolleg-Das-lange-19te-Jahrhundert_Peter-Zimmermann

Die folgenden Auszüge aus der Sendereihe „Radiokolleg – Das lange 19. Jahrhundert“ machen deutlich, wie gefährlich nahe wir uns durch die aktuellen politisch-wirtschaftlichen Verhältnisse am beginnenden 21. dem frühen 19. Jahrhundert annähern:

Nun darf man den Umstand nicht aus den Augen verlieren, dass intellektuelle Debatten genau dort geführt bzw. rezipiert werden, wo die Zeit dazu ist. Muße ist ein Begriff, der in der Aristokratie oder im gehobenen Bürgertum lebenspraktische Bedeutung hat. Der größere Teil der Menschen in Europa war mit Existenzsicherung beschäftigt. Sie lebten in weitgehender Abhängigkeit von der besitzenden Klasse, erzählt die Wirtschaftshistorikerin Andrea Komlosy: „Wenn man die Ausbeutung konkret nimmt, nämlich wie leidet man unter Arbeitsverhältnissen bzw. wie gut kann man da von dem was man bekommt auch leben, dann haben Sie völlig recht, es ist zunächst einmal eine völlig ungeregelte Situation. Denn soziale Sicherheit war ja in diesen kleinteiligen, zünftischen oder ländlich-bäuerlichen Verhältnissen halt einfach im familiären Rahmen oder halt auch im paternalistischen Rahmen der Grundherrschaft oder des Dienstgebers geregelt. Die Bedingungen waren da relativ schlecht teilweise, aber es war auf jeden Fall klar, wer verantwortlich ist. Und in dem Moment, wo Leute dann diesen Rahmen verlassen haben und nicht mehr auf diese Strukturen zurückgreifen konnten, weil sie zB in einen Industrieort gezogen sind, wo sie dann – was weiß ich – 14 Stunden arbeiten oder so, gab´s kein soziales Netz und gleichzeitig gab´s auch noch überhaupt keine Regeln, wieviel man denn so herausholen darf aus so einer Arbeitskraft. Insofern hat auch niemand eine Regel gebrochen, wenn er jemand für 14 Stunden oder 16 Stunden oder 6jährige Kinder eingesetzt hat. Man spricht ja von dieser ursprünglichen Akkumulation, die eigentlich sehr viele Unternehmerbiografien auch begründet hat, weil man da halt einfach zugreifen konnte.“

Wer sich aus der Grundherrschaft oder aus einem streng geführten Handwerksbetrieb lösen wollte, dem blieb als Alternative oft nur die Arbeit in einer Fabrik. Wobei man sich das nicht so einfach vorstellen darf, denn im 19. Jahrhundert ist das Fabrikswesen einigermaßen überschaubar. In der Habsburger Monarchie gab es nur ganz wenige Industrieregionen: in Niederösterreich, in Böhmen, die vor allem Textilien und Metallwaren erzeugten. In den deutschen Ländern vor der Reichsgründung 1871 sah es nicht anders aus. Verhältnisse wie in Manchester, die Friedrich Engels 1845 in seinem Buch die „Lage der arbeitenden Klasse in England“ beschrieb, war nicht vergleichbar mit den Bedingungen auf dem Kontinent: „Der Arbeiter ist rechtlich und faktisch Sklave der besitzenden Klasse, der Bourgeoisie, so sehr ihr Sklave, daß er wie eine Ware verkauft wird, wie eine Ware im Preis steigt und fällt. Steigt die Nachfrage nach Arbeitern, so steigen die Arbeiter im Preise; fällt sie, so fallen sie im Preise; fällt sie so sehr, daß eine Anzahl Arbeiter nicht verkäuflich sind, „auf Lager bleiben“, so bleiben sie eben liegen, und da sie vom bloßen Liegen nicht leben können, so sterben sie Hungers.“

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„Die Zustände waren in England so entsetzlich – im England des ersten Drittels des 19. Jahrhunderts, im industrialisierenden England des ersten Drittels des 19. Jahrhunderts – so entsetzlich, wie Engels sie beschrieben hat, weil das politische System relativ weit entwickelt war“ sagt der Historiker Franz J. Bauer: „Weil die Gesellschaft mit ihren Interessen, das heißt die dominanten Kräfte der Gesellschaft, das politische System weitgehend beeinflussen konnten. Das heißt, die englischen Bourgeois, die englischen Industriellen, auch die englischen Finanzkapitalisten, hatten genügend Einfluss aufs Parlament, entweder indem sie sich selbst wählen oder indem sie ihre Leute drin hatten, um sich die richtigen Gesetze zu machen oder um dafür zu sorgen, dass keine eingreifenden Gesetze gemacht werden, dass der Staat also wegschaut oder stille hält und nicht auf der Seite dieser Schwachen, Unterdrückten eingreift, wie es eigentlich christliches Staatsverständnis schon seit dem Mittelalter (…) verlangt hätte. Der Monarch hatte auch eine christliche Verantwortung für seine Untertanen. Das wird sozusagen unterlaufen, weil dieses System schon so weit ist, dass eine breite Elite über das Parlament maßgeblichen Einfluss auf das politische System gewinnt.“

Drohende Gefahren rechtzeitig abwenden

Wer die vorliegenden Zitate und die von Peter Zimmermann gesprochenen Erläuterungen dazwischen ideologisch einigermaßen frei liest, wird erkennen, dass es mehr braucht, als die reine Hoffnung auf Besserung, um die Weiterentwicklung unserer Demokratien nicht zu gefährden, und damit den „Wohlstand der Nationen“.

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Stephan Schulmeister beschreibt die aktuelle Lage in „Der Weg zur Prosperität“ mit diesen Worten: „Der Weg von ‚neoliberaler Knechtschaft‘ zu einer neuen Prosperität wird keine Jahrzehnte dauern. Erstens ist die Performance des Neoliberalismus miserabel. Zweitens bereitet eine finanzkapitalistische ‚Spielanordnung‘ selbst den Boden für ihren Niedergang. Drittens hat die Forschung das Fundament der herrschenden Theorie, den homo oeconomicus, irreparabel demoliert. Doch die Chance lebt, wie er meint, dass „der Eigennutz der Eliten den Weg frei macht zu einer Abkehr der ‚Finanzalchemie‘„.

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Dieses Plakat wurde um das Jahr 1925 vom Landesausschuß der Erwerbslosen Schleswig-Holsteins affichiert. Die Forderung nach einer 4-Tage-Woche bringt uns bei 12h-Arbeitstagen auch nicht weiter, sondern eher wieder zurück ins 19. Jahrhundert!

Das Potenzial für einen Wechsel vom Interessenbündnis zwischen Real- und Finanzkapital zu jenem zwischen Realkapital und Arbeit ist also schon vorhanden. Seiner ‚Aktivierung steht allerdings der ‚Zauberlehrlingseffekt‘ entgegen: Die neoliberalen ‚Geister‘, welche die Unternehmer(vertreter) vor fast fünfzig Jahren gerufen hatten, werden sie nicht so leicht los.

Ob es dafür – wie bisher in der Geschichte – eine massive Krisenvertiefung in Gestalt einer Finanzschmelze braucht, eventuell verbunden mit einer Auflösung der Währungsunion und einer Machtausweitung rechtspopulistischer Parteien, oder ob Aufklärung den Weg aus der Talsohle des ‚langen Zyklus‘ frei macht, lässt sich nicht prognostizieren – aber beeinflussen.“ (S 303)

Was wir unter dem Begriff „Finanzschmelze“ (zB als Folge einer implodierenden Spekulationsblase) zu verstehen haben, erläutert Stephan Schulmeister in der Anmerkung zu „Die (systemische) Hauptursache der „großen Rezession“ 2008/2009 besteht darin, dass gleichzeitig drei Bullenmärkte (Aktien, Rohstoffe, Immobilien) in drei Bärenmärkte kippten und damit die größte Vermögensentwertung seit den 1930er Jahren verursachten“ auf Seite 139 so:

„Die Koinzidenz einer gleichzeitigen Entwertung von Aktien, Immobilien und Rohstoffen trat historisch zuletzt zwischen 1929 und 1933 auf. Während die US-Politik nach dem Aktiencrash im Gefolge der Lehman-Pleite nur einige Tage brauchte, um die Gefahr einer generellen Finanzschmelze samt Abrutschens in eine Depression zu begreifen, benötigte die Politik in Europa und insbesondere in Deutschland wesentlich länger (noch im November 2008 lehnte Merkel ein Konjunkturpaket ab).“

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