
Unter dem Begriff Arbeitslosen-Lobby hat sich als Reaktion auf die geplanten sozialpolitischen Verschlechterungen im bisherigen Sozialstaat Österreich eine seit Jänner 2018 wachsende Gruppe gebildet, die eben darüber aufklären möchte. Ein erster Folder (aktuelle Version) wurde anlässlich der Demo zum Internationalen Frauentag am 8. März in Graz verschenkt.

Mit dem Schlagwort „Neue Gerechtigkeit“ wurde verheißungsvoll darum geworben, das „System“ aufbrechen zu wollen. Gutgläubige Bürgerinnen und Bürger wurden so hinters Licht geführt. Sehr schnell hat sich nach der Wahl und mit der Präsentation des Regierungsprogramms im Dezember 2017 heraus gestellt, was wirklich damit gemeint ist: „Steuergeschenke für Bestverdiener“ und „Leistungskürzungen bei der AUVA„. Somit gerät der Sozialstaat weiter unter Druck und eine Verstaatlichung der autonomen Sozialversicherung droht. Dabei schützt nicht einmal die bisherige Rechtssituation in Österreich vor Ausgrenzung durch Armut. Ein bedeutender Grund dafür liegt in lang andauernder Arbeitslosigkeit. Diese ist zumeist insofern „unfreiwillig“, als die seit Jahrzehnten wachsende Anzahl der (Erwerbs-)Arbeitsuchenden jene der offenen Stellen übersteigt.
„Die Deregulierung und Flexibilisierung des Arbeitsmarktes infolge der Hartz-IV-Reformen“ führte in Deutschland zu einem massiven Anstieg der Niedriglohnquote. Mittlerweile hat Deutschland EU-weit das höchste Armutsrisiko bei Arbeitslosigkeit.
Dazu kommt, dass „Arbeitslose stärker unter Druck stehen, eine schlecht bezahlte Arbeit anzunehmen„. Mit anderen Worten heißt das: mit einer wachsenden Arbeitslosenrate sinken die Löhne. Die arbeitsmarktpolitische Maßnahme Hartz IV
Deutschland verzeichnete im Vergleich zu Österreich einen starken Rückgang an Einwohner*innen im erwerbsfähigen Alter. Darin liegt ein wesentliches Indiz für die gegenüber Österreich gegenläufige Tendenz in Bezug auf die Arbeitslosenrate.

sollte in Deutschland dazu beitragen, die Zahl der Arbeitslosen zu verringern, doch sie scheiterte kläglich. Das Hartz-IV-System machte aus erwerbslosen Armen arme Erwerbslose. Überdies liegt in Deutschland sogar der gesetzliche Mindestlohn deutlich unter der Niedriglohnschwelle, abgesehen von den knapp 10 % der Beschäftigten, die nicht einmal nach diesem gesetzlichen Anspruch entlohnt werden!
Es geht allerdings auch anders, wie das Beispiel Schweden zeigt:
Wenn die Ungleichheit in Schweden dennoch angestiegen ist, dann insbesondere durch zahlreiche Steuersenkungen, „von denen aber vornehmlich die Reichen profitierten„.
Die Darstellung zeigt den Anteil der „Niedriglohnempfänger als Prozentsatz der gesamten Angestellten (ohne Auszubildenden)„. Im Niedriglohnbereich arbeitet, wer weniger als 2/3 des mittleren Einkommens (Medianeinkommen) für seine Dienste erhält. Susanne Pernicka in Bezug auf die österreichischen Erfolge der Vergangenheit: Sozialpartnerschaft kann Großkonzernen die Stirn bieten.
Auch in Österreich gab es nach Verlassen der Vollbeschäftigung zu Beginn der 1980er-Jahre noch eine Zeit, in der die Solidarität lebendig war und die Umverteilung von oben nach unten funktionierte.
Für Sir Anthony B. Atkinson kam die „Ungleichheitswende“ bereits mit dem Jahr 1980. Er forschte ein halbes Jahrhundert lang zum Thema Ungleichheit und er stellte schließlich fest: „…, wir müssen die Gegenmacht der Verbraucher und Arbeitnehmer stärken“ (Ungleichheit, S 191).
Wie kam es zu dieser Ungleichheitswende?
Der erfolgreiche Kampf Margaret Thatchers gegen die Gewerkschaften hatte Jahrzehnte danach arbeitsmarktpolitisch verheerende Auswirkungen. Anthony B. Atkinson schrieb im Jahr 2015, kurz vor dem oben erwähnten Zitat: „In erheblichem Maße erwächst das Marktergebnis gegenwärtig aus der Verhandlungsmacht der verschiedenen Teilnehmer. Wenn Menschen auf Null-Stunden-Verträge ohne Lohngarantie eingehen, so deshalb, weil sie auf dem Arbeitsmarkt machtlos sind.“
Mittlerweile ist es allerdings so, dass sogar der einstmals als neoliberal bezeichnete Internationale Währungsfonds (IWF) für eine Stärkung der Gewerkschaften eintritt. Gewiss, die Strategie dahinter ist nicht gerade als umwerfend nachhaltig oder gar systemverändernd zu bezeichnen, weil sie insbesondere über steigende Konsumnachfrage Wachstum und Inflation bewirken soll. Doch immerhin klingt dieser Ansatz fast schon klassenkämpferisch im Sinne von FAIRteilung.
Warum sollten wir uns ALLE solidarisch erklären mit jenen, die „am bewusst reproduzierten Rand der Gesellschaft“ angekommen sind?
Die bunte Mitte der Gesellschaft geht zu ihren Rändern aus verschiedenen Motiven. Die einen als Menschenfreund*in und andere, weil sie erkannt haben, dass niemand sonst ihre Interessen nachhaltiger vertritt, als sie selbst. Und weil sie erkennen, wie sehr die sozialen Randgruppen – insbesondere am unteren Ende der Einkommensskala – als ihre mitunter sinngebenden STÜTZmauern fungieren, wenn es darum geht, ein Abrutschen aus der Mitte (Bricht die Mittelschicht weg?) zu verhindern.
Was können oder besser: sollten wir tun?
Das erste Gebot ist Wachsamkeit gegenüber den Versprechungen, die sich dann (womöglich) als ihr realpolitisches Gegenteil herausstellen. „Anreize“ sind in diesem Zusammenhang ein gerne verwendetes Wort, um „vermeintliche Vorteile“ darin zu verpacken.
Eine Handlungsoption ist, Petitionen wie jene der am 10. Februar 2018 geschlossenen DON’T SMOKE-Initiative der Österreichischen Krebshilfe zu unterzeichnen, diese konkret zu unterstützen oder sich Organisationen anschließen, die aktiv sind im Kampf gegen die „Neue UNgerechtigkeit“, die sich im Land auszubreiten versucht.
Wie immer und wofür wir uns als Demokrat*in auch entscheiden, eines sollte uns allen klar sein: Kürzung der Arbeitslosenbezüge ist menschenrechtswidrig und ein Schritt in Richtung Hartz IV …
Die teilnehmenden Organisationen der Arbeitslosen-Lobby sind:
Neu hinzugekommen ist am 29. August 2018 InterACT … herzlich willkommen!
Anhang mit Literaturempfehlungen und Medienhinweisen
Titelbild des ersten Folders der Arbeitslosenlobby
Wir sagen „NEIN zu Hartz IV“ … aus guten Gründen! Einer davon wird in dieser Grafik sichtbar:

Pilotprojekt Effekte der Arbeitslosigkeit (Universität Wien, Okt. 2009):

In der Evaluierung des Projekts „Würde statt Stress“ vom Februar 2011 wird darauf hingewiesen, wie bedeutend der erweiterte Begriff „soziale Gesundheit“ ist:
Psychische und soziale Gesundheit
In Bezug auf das Schulklima und die Schulkultur heißt es in diesem Artikel auf der Webseite der DGUV (Deutsche Gesetzliche Unfallversicherung): „Das soziale Klima wird allgemein als ein zentraler Faktor für die Gesundheitsqualität und die Leistungsfähigkeit einer Organisation und ihrer Mitglieder betrachtet. Das gilt auch für die Schule.“

Zwischendurch eine Literaturempfehlung:
Soziale Menschenrechte von Michael Krennerich
Die Mission des ÖGB laut Grundsatzprogramm: Gerechtigkeit
Zwischenbericht zur WIFO-Studie „Sozialstaat und Standortqualität„:

Magdalena Holztrattner weist in ihrem Beitrag darauf hin, dass sich einst Betroffene selber zusammengeschlossen haben, um ein Sozialversicherungssystem zu gründen. Dieses ist ein wesentlicher Pfeiler des wirtschaftlichen Erfolgs Österreichs. Nun geht es aber darum, durch Schlagsätze wie „Jeder ist seines Glückes Schmied“ zu entsolidarisieren. Dadurch würden nicht mehr Armut bekämpft, sondern von Armut betroffene Menschen, also [Anm.: bewusst] Ausgegrenzte. Bezogen auf entsprechende Aspekte im türkisblauen Regierungsprogramm zitiert sie den ersten Präsidenten des Hauptverbandes der Sozialversicherung, Johann Böhm: „Soziale Sicherheit ist die verlässlichste Grundlage der Demokratie„.
AK Steiermark: Was will die neue Regierung? Einen 12-Stunden-Arbeitstag oder Almosen statt Notstandshilfe?
GPA-djp: Was Türkis und blau mit Österreich vorhaben – Ein 12-Stunden-Arbeitstag geht dem Soziologen Jörg Flecker völlig in die verkehrte Richtung
Vermögensteuer für Arme
Nachdem die erste Widerstandswelle abgeebbt zu sein scheint, wird mit wiederholenden Aussagen versucht, das Unbewusste im Volk auf das scheinbar Unausweichliche vorzubereiten: die Notstandshilfe WIRD auf Dauer durch die Mindestsicherung ersetzt. Dass damit allerdings eine Vermögensteuer für jene gemeint ist, die zumeist unverschuldet in eine prekäre wirtschaftliche Situation aufgrund längerer Erwerbslosigkeit geraten sind, das wird geflissentlich nicht dazu gesagt. Mit anderen Worten dürfen wir behaupten:
Mindestsicherung als Ersatz für die Versicherungsleistung Notstandshilfe IST vergleichbar mit einer Vermögensteuer für Arme und prekär Beschäftigte. Dadurch wird Armut im Land nur noch weiter verbreitet und der ehemalige Sozialstaat Österreich wird seine Potenziale, auf die sein Reichtum baut, nicht mehr in dem Maße nutzen können, wie dies bisher der Fall war.
Blicken wir zurück in der Geschichte der Notstandshilfe, dann sehen wir, dass mit ihrer Einführung im Jahr 1947 eine Wiederholung dessen verhindert werden sollte, was durch Armut aufgrund von Erwerbslosigkeit möglich wurde: das Aufkeimen einer machtpolitisch erfolgreichen faschistischen Bewegung. Aus den Erfahrungen von Irene Harand sollten wir lernen, wieviel Unmenschlichkeit möglich wird, wenn prekäre wirtschaftliche Verhältnisse grassieren und so den Nährboden bilden für politische Gruppierungen, die mit Vorliebe nach Schuldigen dafür Ausschau halten. Wir sollten aber auch erkennen, dass einzelne philanthropische Maßnahmen mitunter keinen ausreichenden Schutzschild dagegen bilden. Dieses Risiko darf nicht schlagend werden, weshalb wir diesmal rechtzeitig aufstehen sollten, um entsprechende Korrekturen erfolgreich einzufordern. Nachhaltig geschützte Ränder stärken auch in friedlicheren Zeiten die Mitte von Leistungsgesellschaften. Die Abschaffung der Anrechnung des Partnereinkommens bei der Notstandshilfe war ein erster richtiger und wichtiger Schritt in diese Richtung!

KULTUR als Impfstoff gegen Sozialabbau
Um einen Schritt zurück vor diesen Erfahrungshorizont zu verhindern, bedarf es einer lebendigen, sozialdemokratischen Kultur, wie sie beispielsweise über Jahrhunderte in Dänemark gewachsen ist. Diese ist der beste Impfstoff gegen den Versuch, das Rad der Zeit wieder zurück zu drehen, indem sozialversicherungsrechtliche Errungenschaften letzten Endes sogar mittels Änderungen verfassungsrechtlicher Bestimmungen aufgehoben werden. Es gilt, diese Überlegung von Lukas Wurz in die Verlängerung zu bringen:
„Ein allfälliges Ersatzmodell für die Notstandshilfe wird jedenfalls auch sachlich sein müssen hinsichtlich der Armutsverhinderung, also in der Praxis ebenfalls nicht unter die Ausgleichszulage fallen können.“
PS: In seiner Aussendung „Sommerlektüre: Arbeitslosenversicherung reloaded“ vom 17. August 2018 fordert der kULTURRAT Österreich:
Angesichts der schwarzblauen Regierungspläne müssen wir uns auf einen heißen Herbst zur Verteidigung der Absicherung bei Erwerbslosigkeit einstellen. In jedem Fall gilt:
# Nein zur Abschaffung der Notstandshilfe!
# Arbeitslosenversicherung muss für eine durchgehende soziale Absicherung sorgen: in angemessener Höhe enstprechend zum vorangegangenen Einkommen, existenzsichernd, mindestens auf dem Niveau der Armutsgrenze, unbefristet!
Mindestsicherung statt Notstandshilfe heißt: kein Pensionsanspruch – Elfriede Hammerl über die Rente, die dann weg ist: https://www.profil.at/meinung/elfriede-hammerl-pension-mindestsicherung-9061654
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